Die Überwindung beschränkender christlich geprägter Normen ist in Deutschland seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Bedeutung in den Hintergrund getreten. Heute stehen Fragen nach Formen des Zwischenmenschlichen und der Beziehungen für viele im Vordergrund. Während es in den 70er Jahren für Sinn suchende noch klare gesellschaftliche Alternativen gab für die man sich entscheiden konnte, ist im heutigen Nebeneinander verschiedenster politischer und kultureller Ansichten auf kleinem Raum die Suche nach einen Sinn im Leben geprägt von der Notwendigkeit scheinbare Widersprüche zu integrieren.
Ich denke, nachdem Freud, Wilhelm Reich und die sexuelle Revolution, die Erotik und Sexualität aus ihrer moralischen Zwangsjacke befreit hat, sind wir reif, die tieferen und transzendenten Dimensionen der Sexualität und Sinnlichkeit zu erfahren. Es ist nicht nötig, eine solche Verbindung zwischen Sexualität und Spiritualität neu zu erfinden, weil es vieles in der alten tantrischen Tradition Indiens schon gibt.
In Augenblicken großer Intimität und Verliebtheit und beim Orgasmus scheint sich die Trennung zwischen den eigenen Sein und anderen für einen kurzen Moment aufzulösen. Das erleben viele als eine heiligen Dimensionen von Sexualität.
Nur sind die meisten von uns nicht in der Lage, diesem Gefühl Dauer zu geben. Allzu oft verstricken uns sexuelle Erlebnisse und verhaften uns mit jemandem, der uns vielleicht gar nicht gut tut, und führen uns in Abhängigkeiten oder gar zu suchtartigem Verhalten.
Tantra benutzt verschiedene Methoden, um die Sexualität vom Dämonischen zu befreien, um mit dieser enormen Energie sicher und selbstbestimmt umgehen zu können. „Lerne, den Tiger zu reiten“, heißt es in den Schriften.
Richtig angewandt, kann der Schüler des Tantra erlernen, seine Sexualität schrittweise zu intensivieren und zu verfeinern, bis sie immer mehr zur umfassenden Liebesenergie wird, die kraftvoll aus dem Herzen durch den eigenen Körper strömt.
Wir lernen, die Gefühle stärker zu fühlen, und dabei einen klareren Geist zu behalten.
Abhängigkeiten können aufgelöst werden, wir lernen, mit der Kraft des Eros spielerischer umzugehen und sie zu nutzen, um unsere Meditationspraxis zu vertiefen.
Nicht zuletzt wird im westlichen Tantra eine Vielzahl neuer Spielarten der sexuellen Lust gelehrt. Sexualität erweitert sich von den Genitalien auf den ganzen Körper und längere Zeiträume und kann als Ganzkörperorgasmus erlebt werden. Oder im tiefen Talorgasmus wird bis dahin ungeahnte Verbundenheit gefühlt.
Einsteiger lernen erst mal durch Wahrnehmungsübungen ihre Sinne zu verfeinern. Sie lernen auch, sich sicher gegenüber anderen Menschen zu bewegen, Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen, Grenzen zu setzen und achtsam mit den Grenzen des anderen umzugehen. Richtig nein zu sagen und richtig ja zu sagen.
Praktiken und Ethik eines Westlichen Tantra
Westliches Tantra ist ein Konglomerat fernöstlicher Weisheitslehren und westlicher, teilweise therapeutischer Methoden, die den Bedürfnissen westlicher Menschen entsprechend, zu einem schillernden Gedankengebäude zusammen gesetzt sind, welches als Neotantra oder westliches Tantra eine ganz eigene und vielfältige Weltanschauung entwickelt. Dabei wird nicht zimperlich aus anderen Lehren übernommen.
Unterschiedliche Institute und Schulen versuchen auf verschiedene Weise, die Essenz des Tantra mit westlichen Methoden und neuzeitlichem Gedankengut zu kombinieren. Die einen legen Wert auf Yoga und Meditation, die anderen auf die erotischen Techniken, andere stellen Beziehung und Partnerschaft in den Mittelpunkt. Tantra ist ein Haus mit vielen Zimmern.
Aus humanistisch geprägter Sicht stehen die alten indischer Götter einfach für Aspekte des Mensch- Seins und helfen uns bei der Annahme bzw. Überwindung eigener Eigenschaften. Es ist nicht nötig an Götter zu glauben. Für Atheisten sind die indischen Götter z.B. eine Arbeitshypothese, die Fähigkeit zur Hingabe zu üben.
In einer westlichen Tantragruppe werden klassische Praktiken genauso dazu gehören, wie westliche (teilw. Therapeutische) Methoden. Es geht im Kern immer um den Menschen, der durch Sinnes- und Körpererfahrung der Selbstliebe näher kommt und seine Liebesfähigkeit steigert.
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