Tantrisches Männerbild?

Bei einem Tantra-Seminar in jüngerer Zeit wurde in einer großen Männerrunde über das Selbstbild debattiert, was für mein Gefühl etwas zu heteronormativ war. Was könnte denn im tantrischen Kontext Männlichkeit bedeuten? Für viele Männer ist Kraft eine wesentliche Qualität des Mannes und “Krieger” (des Herzens)  werden als positives Bild gesehen. 

Das Bedürfnis, den Körper zu spüren, die Grenzen der körperlichen Belastungsfähigkeit zu erfahren und Selbstwirksamkeit zu erleben, halte ich für menschlich. Aus tantrischer Sicht sollte ein ganz anderer Bezug hergestellt werden. 

Die Shiva-Shakti-Dualität im Tantra wird häufig fälschlich als Mann-Frau-Dualität dargestellt. Klassisch steht Shiva aber für Bewusstsein und Shakti für Energie/Materie. Es sind zwei Begriffe bzw. Prinzipien. Es ist die Aufgabe aller Menschen, eine harmonische Balance von Shiva und Shakti herzustellen, und die ganze Bandbreite den “inneren Mann” und die “innerer Frau” zu entwickeln. Shiva-Bewusstsein heißt Raum gestalten und halten. “Shakti-Energie” kann sich dann da hinein entspannen und zeigen. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Tango-Tanz, wo der Führende mit Bewusstsein die Formen vorgibt, aber erst mit der hingebungsvoll Folgenden die errotisch sinnliche Qualität des Tanzes schön wird. Klassisch übernimmt der Mann die Verantwortung für den Tanz, aber es ist nur eine Rolle. Für mich waren es gute Erfahrungen, von meiner Partnerin im Tanz geführt zu werden und Hingabe zu üben. Ich kann allen Tänzern nur empfehlen, mal zum queeren Tango zu gehen und zu erleben, was es mit dir macht, dich in verschiedenen Rollen zu erleben. 

Aber was ist dann archetypisch männlich? Typisch ist beim Sex das Eindringen des Penis in die Vagina. Dieses “Eindringen”, “hinein wollen”, auf die Partnerin zu gehen usw. ist vermutlich biologisch tief verankert. Das wäre typisch männlich, aber im Rahmen des Patriarchats sehr problematisch, wenn Mann nicht Herzoffen ist und der Frau erlaubt da hinein zu kommen. Einige Frauen,auf das Thema angesprochen, reagierten auf diesen Gedanken verunsichert. Der Wunsch nach Disziplin der Männer wurde geäußert. Der Mann soll seine Kraft und zielgerichtete Energie in den Dienst eines höheren Stellen. Und damit sind wir wieder bei der “Krieger-Qualität”. 

Ich entwickele die Meinung, dass wir das Wort „Krieg“ aus unserem Kontext verbannen sollten. Kriege werden meist von Männern angezettelt, die nicht mit ihren Emotionen umgehen können. Kriege werden befohlen, um zu Herrschen. Kriege werden von „Staaten“ geführt. Krieg ist unmittelbar mit unserem Staatsbegriff verknüpft, der selbst zu hinterfragen ist. Staat bietet für viele einen subjektiven Schutz vor individueller Gewalt, aber ist historisch die Quelle von sehr viel Brutalität. Staat und Krieg bilden eine Einheit, die sich nur mit einer Transformation unserer Gesellschaftsform überwinden lässt.

Der „Kriegstanz“ des Haka (ein Workshop auf den sich mehrere Männer bezogen) wurde beim Besuch eines anderen Stammes getanzt. Ich vermute einen „Übersetzungsfehler”, bei dem unsere kriegerische Kultur Worte benutzt, die bei uns häufig sind, aber den Anlass nicht richtig wiedergeben. Stammesbesuche sind ja kein Krieg. 

Tantrische Männlichkeit würde bedeuten, in jedem Menschen die ganze Bandbreite von Shiva-Bewusstsein und Shakti-Energie zu entfalten; In jedem sexuellen Akt das Zusammenspiel von „bewusst Raum halten“ und „Hingabe“ zu gestalten. Und das archetypisch männliche “Eindringen“ und archetypisch weibliche „Empfangen“ in Liebe zu verbinden. Der Umgang mit den starken Kräften der Sexualität will gelernt werden und braucht eine sexpositive Kultur. Sexpositive Kultur braucht emotionale Offenheit.

Krieg und Staat?

Ich denke, dass es irgendeine Form von „Gebietskörperschaft“ immer geben wird. Eine organisatorische Einheit für das friedliche Zusammenleben von Menschen. Darin wird immer des einen Bedürfnisbefriedigung zurückgestellt gegenüber Anderen. Gute und gerechte Regeln dafür sind eine hohe Kunst. Und „Gebietskörperschaften“ kooperieren, was wieder größere Strukturen schafft, die anonymer und in ihren Wertesystemen unterschiedlich sind. Gute und gerechte Regeln für Kooperation und ihre Weiterentwicklung sind wieder eine hohe Kunst. 

In jedem Fall entstehen Machtstrukturen. Bewusstsein von Machtstrukturen und ihrer Wirkungsweise sollte gepflegt werden; innerhalb und außerhalb der exekutiven Macht. In einem demokratischen Gesellschaftsbild, wo die Bewohner einer Gebietskörperschaft im Wesentlichen über sich selbst bestimmen, bilden die relativen demokratischen Wahrheiten (z.B. von Mehrheiten) die Leitlinien der Exekutive. Aber absolute Wahrheiten können und dürfen nicht von der Exekutive für sich in Anspruch genommen werden. Absolute Wahrheiten sollten von Forschung und kulturellen oder spirituell-religiösen Institutionen erarbeitet werden. Ein Bewusstsein von Macht sollte dazu führen, dass innerhalb einer Gebietskörperschaft (und darüber hinaus) ein Gleichgewicht von vielen Machtzentren gepflegt wird, vielleicht vergleichbar mit einem guten Biotop. Vielfältige Biotope sind resistenter gegen einzelne degenerative Entwicklungen und anpassungsfähiger an veränderte Bedingungen. …

Nach 2000 Jahren Patriarchat wirkt die männliche Aggression für viele Frauen bedrohlich. Diese Bedrohung ist tief im kollektiven Gedächtnis der Frauen verankert. Hier ist Heilungsarbeit zu leisten. In (patriarchalen) Herrschaftsstrukturen stören Mitgefühl und frei fließende Emotionen. Staatliche Herrschaft und Krieg führen dazu, dass viele Menschen (vor allem Mächtige) ihr Mitgefühl und emotionale Fähigkeiten verkümmern lassen.

„Männer lassen Lieben.“ Dies wiederum gibt den Frauen eine ungeheure Macht, die sich als emotionale Übergriffigkeit zeigen kann. Staatliches Gewaltmonopol kann die gröbsten individuellen Auswüchse in geregelte Bahnen lenken. Krieg zu überwinden bedeutet eine Transformation des Gesellschaftsbildes; mehr Bewusstsein und Menschlichkeit – weniger Staat.

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